Der rote Wirt und die vielen Sommerfeste
An der Hauptstraße beim heutigen Stöckerl gab es früher ein Lokal, es hieß „beim Roth“. Der Pächter Wanninger kam von Franken und heiratete die Tochter vom Roth, der auch Besitzer vom „Hotel König Ludwig“ war. Die Tutzinger nannten ihn, da sie immer gleich bei der Hand waren für einen Spitznamen, den roten Wirt. Das kam aber nicht von ungefähr, denn in Tutzing gab es damals schon vor dem 1. Weltkrieg eine ansehnliche Gruppe von Sozialdemokraten, die beim Wanninger ihr Stammlokal hatten. Als Bub wurde ich öfters, wenn wir zu Hause Besuch hatten, zum Roth um Bier geschickt, denn beim Pauli Poidl wurde kein Bier gelagert und wenn jemand Durst hatte, hieß es immer, Wasser ist gesünder und billiger. Ich ging immer gern Bier holen beim Wanninger, denn da war eine Schenke mit Kupfer ausgeschlagen, neben dem Schubfenster war eine echte Glocke mit Zug und wenn ich daran schellte, hörte man sie im ganzen Lokal und es kam der Wanninger, zog das Fenster herauf und fragte nach meinem Begehr.
Ich sagte: „Ich bekomm‘ eine Maß Bier für den Poidl!“ Da lachte er, weil er meinen Großvater als Nichtbiertrinker kannte und wußte, daß wir einen Gast hatten. Fr füllte meinen mitgebrachten Maßkrug extra voll und fragte, ob ich einen Schluck möchte fürs Holen. Doch ich konnte damals noch kein Bier vertragen und mußte ablehnen. Aber der Wanninger Vater lachte nur, wechselte ein paar Worte mit mir, er strahlte soviel Gemütlichkeit aus und wenn er lachte, bekam er ein rotes Gesicht und sein Bierbäuchlein, das ja jeder Wirt haben mußte, wackelte ein bisserl. Er sagte dann zu mir: „Es gibt zwei Bauern in Tutzing, die kein Bier trinken, ihr beim Poidl werds mit Birndauch aufgezogen und beim Teebauern vorn beim Hoffischer tringas a koa Bier!“
Beim Wanninger liefen anscheinend die Geschäfte sehr gut und so konnte er 1925 den Sommerkeller samt dem großen Areal kaufen und nannte ihn, da er ganzjährig geöffnet wurde, „Tutzinger Keller“. Ich kann mich noch gut an den Umbau erinnern, da ich meinen ersten Tag als Lehrling 1926 auf dieser Baustelle arbeitete. Nach der feierlichen Eröffnung ging es beim Wanninger gut weiter, er war natürlich auch in dem neuen Lokal Herbergsvater der Sozis. Es war auch Vereinslokal vom Arbeiter-Radfahrerbund Solidarität (später mit einer Motorradabteilung), dem Arbeiter-Turnverein, dem Arbeiter-Gesangsverein, dem Arbeiter-Sparverein. Später gründete noch der Harry Wild den „Kraftsport-Klub Tutzing“ und auch der Reichsbanner „Schwarz-Rot-Gold“ hielt dort seine Übungen ab. Und der Wanninger war noch immer der „rote Wirt“.
Am schönsten waren für mich die Sommerfeste, die der Wanninger in seinem Biergarten veranstaltete. Die Radler hatten große Erfolge mit Banzenstechen, Langsamfahren und im Saal bewies eine Gruppe von Kunstradfahrern ihr Können, es wurde ein Radballspiel gezeigt. Auch die Turner zogen oft eine Schau ab im Geräteturnen, der Gesangverein unter Stabführung von Stautner war nicht geizig mit seinen Einlagen. Und der Kraftsportklub hatte einen großen Zulauf, viele Boxkämpfe wurden im Saal sowie im Freien ausgetragen.
Es ging dem Wanninger wirtschaftlich sehr gut. Wenn man ihn im Lokal arbeiten sah, strahlte er Gemütlichkeit aus. Auch in der Gemeindepolitik hatte er Erfolg, er wurde als Gemeinderat gewählt. Aber dann machte sich die Arbeitslosigkeit bemerkbar, die Kommunisten tauchten auf und es kam das Dritte Reich. Man kann sich vorstellen, daß bei einem ehemaligen SPD-Mitglied, wie es der Wanninger war, der Bierumsatz nicht stieg. Er konnte sich nicht umstellen, aber er hielt durch bis Kriegsende. Sein Sohn mußte dann die Wirtschaft aufgeben. Ich traf den alten Wanninger oft beim Mühlhof er, der ihn in seine ehemalige Wirtschaft einlud. Da saß er hinten in der Ecke und hatte selten einen Gesprächspartner. Einmal sagte er zu mir: „Woaßt, Bua, daß i heit koa Wirtschaft mehr hab, des macht ma nix aus, awa daß mi d’Leit nimma kenna, des duat weh!“
Der Wanninger starb später im Altersheim in Garatshausen.
Aus: Geschichten aus dem alten Tutzing, von Sepp Pauli – 1. Auflage 1989